Die Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind bei Janusz Korczak

Von Lavinia Korte
Julius- Maximilians Universitaet Wuerzburg, Institut fuer Paedagogik, Lehrstuhl I, WS 2002/03, Proseminar: Das „Jahrhundert des Kindes“- Rueckblick und Ausblick

Einleitung

Diese Arbeit beschaeftigt sich mit der Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind in Janusz Korczaks Buch „Wie man ein Kind lieben soll“, wobei ich mich hierbei dem ersten und umfangreichsten Teil des Buches gewidmet habe, der den Titel „Das Kind in der Familie“ traegt. Korczak stellt hier ausschliesslich die Entwicklung des Kindes von den fruehen Lebensjahren bis zu den Jugendjahren dar, wobei er vor allem auf die Beziehung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind und den Besonderheiten dieser Beziehung eingeht.

Über Korczak, insbesondere ueber seine Paedagogik ist ein enormes Spektrum an Literatur zu finden, wobei hierbei vorrangig auf sein Leben Bezug genommen wurde und nicht so sehr auf seine paedagogischen Hintergruende. Diese paedagogischen Hintergruende sind vor allem die Liebe zum Kind, zu Kindern. Warum diese Liebe auch mit Korczaks Tod eng verknuepft ist, werde ich noch erlaeutern.

Bei meiner Recherche habe ich ausserdem zwei weitere Schriften von Janusz Korczak, den Band “Von Kindern und anderen Vorbildern“ und „Das Recht des Kindes auf Achtung“ hinzugezogen sowie zwei Biographien, Erich Dauzenroths „Ein Leben fuer Kinder“ und ausserdem die Biographie von Wolfgang Pelzer „Janusz Korczak“.

Janusz Korczaks Tod liegt nun sechzig Jahre zurueck und die Fuelle von Literatur, die ueber ihn zu finden ist, haengt mit seinem tragischen Tod und dem der Kinder zusammen, die er ueber Jahre in seinem Waisenhaus „Nasz dom“ in Warschau betreut und begleitet hatte.

Nach ueber zwanzigjaehrigem Bestehen des Waisenhauses wurden Korczak und seine Kinder 1940 gezwungen, in das am Rande von Warschau errichtete „Warschauer Ghetto“ umzusiedeln, wo sie bis zu ihrer Deportation 1942 in das Vernichtungslager Treblinka zwei Jahre in Elend und Armut verbrachten und wo sich ihre Spuren verlieren.

Korczak haette die Moeglichkeit gehabt, sie wurde ihm zweimal geboten, dem Tod im Vernichtungslager zu entkommen, doch er lehnte dies aus Liebe zu seinen Kindern ab. Durch diese Handlung ist er bis heute zu einem Symbol der bedingungslosen Liebe zu Kindern und der Menschlichkeit geworden.

Vor seinem Tod hat Korczak schon zahlreiche Buecher und Schriften veroeffentlicht, die sich alle mit dem Thema Kind beschaeftigen. „Wie man ein Kind lieben soll“ erschien erstmals 1918. Dies liegt fast ein ganzes Jahrhundert zurueck, viel wurde ueber Korczak geschrieben, viel ueber seine Paedagogik spekuliert und viele seiner Gedanken sind seither vielleicht in Vergessenheit geraten.

Das Ziel dieser Arbeit soll nun sein, die Aktualitaet der Gedanken und Beobachtungen Korczaks herauszuarbeiten. Was koennen Erwachsene, d.h. Eltern, Erzieher und Paedagogen heute von Korczak lernen? Nachdem wir soviel ueber das Kind, seine psychische und koerperliche Entwicklung in den fruehen Lebensmonaten und –jahren erfahren haben, nachdem das Kind von der Wissenschaft der Psychologie und Paedagogik bis aufs letzte erforscht und analysiert wurde, kann man sich vielleicht gerade jetzt auf Korczak zurueckberufen. Man kann seine Überlegungen noch einmal hinzuziehen, um das Kind wieder in einem anderen Licht zu betrachten. Diese Arbeit macht sich nicht zum Ziel das Kind zu durchleuchten, um danach ein fertiges Rezept fuer die paedagogische Begegnung mit Kindern zu erstellen, sondern sie will eine Wahrheit, eine Grundthese, die in allen paedagogischen Theorien verlorengegangen ist, festhalten und aktualisieren.

Hier soll noch einmal mit Korczak gefragt werden : Was beeinflusst unser Handeln, was beieinflusst uns als Erwachsene im Umgang mit dem Kind?

In der heutigen Zeit wuerde wohl niemand mit so wenig paedagogischen Theorien in Bezug auf das Kind auskommen wie Korczak es tat. Gerade deshalb ist es an der Zeit sich auf Korczak zurueckzubesinnen, der eben nicht alle Behauptungen, die er aufstellt stimmig begruendet, sondern Überlegungen anstellt, sie wieder verwirft, aber dabei nah beim Kind bleibt und es interessiert und begeistert beobachtet, nicht unbedingt nach Loesungen strebt und dennoch Loesungen findet, von denen man heute wieder lernen kann.

Zunaechst soll es also um das Kind gehen, um seine Situation, seine Ausgangslage. Es soll erneut versucht werden, zu verstehen, sich einzufuehlen in die Lage eines Wesens, des Saeuglings, der neu in diese Welt kommt, die Welt der Erwachsenen und was diese Situation ausmacht. Ebenso soll die Situation des Heranwachsenden verstanden werden, was geschieht naemlich, wenn das Kind erwachsen wird?

Der bedeutendste Teil dieser Arbeit widmet sich der Begegnung von Kind und Erwachsenem, dem, was diese besondere Beziehung ausmacht und vor allem welche Gefuehle, Erwartungen und Wuensche der Eltern an das Kind damit verknuepft sind, sowohl schon waehrend der Schwangerschaft, des Kleinkind- und Kindesalters, als auch im Jugendalter. Korczak bietet in seinem Buch zahlreiche Beispiele typischer Verhaltensweisen von Eltern und Erziehern in ihren Begegnungen mit dem Kind. Er findet auch viele Kritikpunkte und stellt Überlegungen an, wie man die Rechte und die Situation des Kindes verbessern und sein Leben, sein Aufwachsen in dieser Welt anders gestalten koennte.

Hierbei entwirft Korczak eine neue und einzigartige Sicht des Kindes, die das Bild der schoenen Kindheit verwirft und zeigt, welche Anstrengung und Last auch damit verbunden ist Kind zu sein. Schliesslich soll erlaeutert werden, was seine Beobachtungen und Überlegungen so besonders macht.

Im Endteil werden kurz eigene Praxiserfahrungen im Umgang mit Kindern mit einbezogen, um sie mit Korczaks Thesen zu vergleichen und diese zu unterstreichen. Es soll versucht werden, alle hier gestellten Fragen zu beantworten und noch einmal alles Gesagte zu reflektieren.
1. Das Kind / der Jugendliche
1.1. Die Situation des Kindes: Was bedeutet Kind sein?

"Wenn wir die Urformen von Gedanken, Gefuehlen und Bestrebungen kennenlernen wollen, bevor sie sich entwickeln, differenzieren und definieren, muessen wir uns ihm, dem Saeugling zuwenden“ (Korczak, J., 1998, S.26).

Tun wir dies also: Der Saeugling befindet sich am Anfang aller Prozesse des menschlichen Lebens, in einer vollkommen unbekannten Welt. Alles, was in seiner Umgebung geschieht, ist fremd, unbekannt, ja maechtig, weil er, der Saeugling noch ohnmaechtig ist, orientierungslos, auf Hilfe angewiesen.

Aus diesem Zustand heraus sucht der Saeugling nach Orientierung: Was ist sicher in dieser unbekannten Welt, was ist wiederkehrend, worauf kann er vertrauen? Wiederkehrend ist das Gesicht, der Geruch der Mutter, die Brust, die ihn stillt. Hier ist Sicherheit zu finden. Doch auch die Stimme der Mutter ist nicht immer gleich, mal ist sie hoch und hell, mal tief, mal sind die Haende, die ihn hochheben kalt, mal warm. Immer wieder neue Gesichter, neue Bilder treten vor sein Auge: “Was besagt der forschende Blick eines Kindes anders als die Frage: “Was ist das?“ (Korczak, J., 1998, S.36 )

Also muss sich das Kind auch fragen: Ist es gut oder ist es boese? (vgl. Korczak, J., 1998, S.33) Das Laecheln der Mutter ist gut, das laute Bellen eines Hundes boese. Dies ist ein erster Schritt im Kennenlernen der Welt, um zu verstehen wie alles beschaffen ist. Der Sprache noch nicht maechtig, ist das Kleinkind empfindsamer fuer Sinneswahrnehmungen, Stimmungen, Gefuehle. Die Welt besteht aus Lauten, Toenen, Farben und Gefuehlen, die noch nicht definiert sind. Die Erfahrungen, die gemacht werden, sind zu diesem Zeitpunkt um so praegender, sie praegen sich dem Kind ein: ein lachendes oder ein trauriges Gesicht, eine zornige oder eine liebevoll klingende, sanfte Stimme bekommen hier eine ganz andere Bedeutung (vgl. Korczak, J., 1998, S.37).

Kind sein bedeutet folglich klein sein, waehrend fast alles andere gross ist und das Beduerfnis zu haben, alles zu begreifen, um sich die Welt zu eigen zu machen. Dies ist eine Aufgabe, die alle Kraefte des Kindes beansprucht: taeglich, stuendlich treten neue Gesichter vor sein Auge, muessen neue Dinge erlernt und erforscht werden. Dabei kann das, was an dem einen Tag an neuem Wissen hinzukam und praesent war, am naechsten Tag schon wieder vergessen sein. Jeder Tag bringt neue grosse Veraenderungen mit sich, an einem Tag isst das Kind viel, am naechsten will es nicht viel zu sich nehmen, weil es muede ist.

"Ein Kleinkind, das sein Anfangsgewicht im Laufe eines Jahres verdreifacht, hat das Recht, sich auszuruhen. Seine blitzartige seelische Entwicklung berechtigt es gleichfalls dazu, das ein oder andere von dem zu vergessen, was es bereits kennengelernt hat und was wir vorschnell als eine Errungenschaft von Dauer angesehen haben“ (Korczak, J., 1998, S.70) Dies sollten wir als Erwachsene bedenken. Nachdem die Welt und das, was um das Kind herum geschieht langsam bekannter werden, nachdem vieles unter Anstrengung erlernt worden ist und das Kind sich ein wenig vertrauter in der Welt bewegen kann, beginnt es, zwischen sich und anderen zu unterscheiden, vergleicht sich mit anderen, erlangt ein Gefuehl davon, was „Ich“ bedeutet (vgl. Korczak, J., 1998, S.52 ff.). Eine Staerkung dieses Gefuehls wird durch das Wort „mein“ erlebt: Das Kind will die Grenze zwischen sich und anderen spueren, glaubt, durch Besitz bekommt sein Ich mehr Bedeutung, mehr Wert. Zur Erforschung der Welt gehoert also auch die Erforschung des eigenen Selbst in der Welt und die Frage: Wo bin ich in dieser Welt? Wo befinde ich mich? (vgl. Korczak, J., 1998, S.53)

Die Dinge werden vor allem durch die Reaktionen der Erwachsenen, der Eltern definiert. Unermuedlich fragt das Kind nach den Dingen, wie sie beschaffen sind, was sie nuetzen.

“Ein Kind gibt sich nur schwer mit einer Auskunft zufrieden, fuer die es keine praktischen Anwendungsmoeglichkeiten gibt“ (Korczak, J.,1998, S.108).

Alles muss erprobt und ausprobiert werden. Hierbei ist der Erwachsene dem Kind eine bedeutende Hilfe.
1.2. Die Situation des Heranwachsenden

Waehrend der Kindheit lebt das Kind in einem zumindest nach aussen hin geschuetzten Raum. Die wichtigsten Bezugspersonen sind die Eltern, mit ihnen waechst das Kind auf, sie sind unmittelbar an seiner Entwicklung beteiligt. Wenn das Kind mit unbekannten Situationen konfrontiert wird, kann es die Eltern um Rat und Hilfe bitten und erfaehrt sie als seine „Verteidiger“. Alles Schlechte auf der Welt wird moeglichst noch von dem Kind ferngehalten, es soll, aus der Sicht der Erwachsenen, eine moeglichst reine, unbefleckte Kindheit geniessen koennen. Doch es kommt der Zeitpunkt, an dem das Kind mit dem von ihm ferngehaltenen Teil der Realitaet konfrontiert wird. Es ahnt, dass es neben den schoenen Dingen der Welt auch schlechte gibt, die bis dahin vor ihm versteckt wurden (vgl. Korczak, J., 1998, S.124 ff.).

Das Kind bemerkt vielleicht zum ersten Mal, was es von den Erwachsenen trennt und dass eine Zeit bevorsteht, in der es auf sich allein gestellt sein wird. Es wird sich einmal selbst verteidigen muessen gegen Bedrohliches, wird nicht mehr lange scheinbar geschuetzt sein. Auch dieser Übergang von der Kindheit zur Jugendzeit ist fuer das Kind keine einfache Aufgabe. Kind und Eltern spueren die bevorstehende Veraenderung .

Die Jugendjahre und die zu Ende gehende Kindheit sind von bedeutenden koerperlichen und seelischen Veraenderungen begleitet. Der Entdeckung der eigenen Sexualitaet steht der Jugendliche zumeist erst hilflos und ratlos gegenueber. Wieder kommt etwas Unbekanntes auf ihn zu. Zu den rasanten koerperlichen Entwicklungen kommt der Beginn des Entdeckens der eigenen Persoenlichkeit, die nun nicht mehr vorrangig im Vergleich zu den Eltern oder anderen Erwachsenen steht, sondern auf sich gestellt ist .

Diese erste so erlebte Selbststaendigkeit wuenscht der Jugendliche zu verteidigen, vor allem gegen die Eltern. Er sehnt sich nach Freiheit, moechte alles was ihm in der Erziehung nahegebracht wurde abschuetteln, will nicht mehr zurueck denken an die Kindheit, sehnt sich aber gleichzeitig zurueck in jene Zeit, fuehlt sich verunsichert durch die Verantwortung, die er nun allein fuer sein Handeln traegt. Diese Probleme sind bezeichnend fuer die Jugendjahre, “...das Alter der grossen „Unausgeglichenheit“...“ (Korczak, J., 1998, S.135)

Die Rebellion gegen die Eltern ist der Wunsch nach Unabhaengigkeit, denn der Jugendliche spuert, dass er dennoch abhaengig ist. Am liebsten gaebe es die Eltern nicht mehr, dann koennte man endlich machen, was man will...Aber was will man denn? Der Blick in die Zukunft erweist sich als ebenso schmerzhaft wie der Blick zurueck in die Kindheit: „Der liebe Gott der Kindheit wird spaeter zum schuldbeladenen Gott, zum Urquell allen Ungluecks und aller Laster“ (Korczak, J., 1998, S.145) Alles soll anders gemacht werden als die Eltern es taten, aber wie will man es anders machen?

Der Jugendliche hat Wuensche, Traeume, aber noch hat er Angst davor, sie in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Eintritt in die Gesellschaft, spaetestens bei Erreichen der Volljaehrigkeit offensichtlich, bringt neue Anforderungen mit sich, und die eigenen Wuensche und Traeume muessen sich wieder in ein vorgegebenes Raster einfuegen “...schon gibt es neue Fesseln, o weh!“ (Korczak, J., 1998, S.148). Dieser Prozess, sich selbst, die eigene Persoenlichkeit mit ihren Wuenschen und Traeumen, ihren Idealen trotz der gesellschaftlichen Erwartungen zu bewahren und sie individuell in diesem vorgegebenen Rahmen zu entfalten, gestaltet sich als langwierig und schmerzhaft.

Die Eltern sind von diesen inneren Konflikten des Jugendlichen haeufig ebenso ueberwaeltigt wie dieser selbst, da es auch fuer sie ein schmerzvoller Prozess ist das Kind dem Leben zu „ueberlassen“: „Der Schmerz des Kindes trifft empfindlich auf die Schmerzen der Eltern; das Leid der Eltern ueberfaellt die Qual des Kindes ohne Bedenken.“ (Korczak, J., 1998, S.140)
1.3. Das Kind und der Erwachsene: Gefuehle, Erwartungen, Wuensche

Wann beginnt die Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Kind? Sobald den Eltern sicher ist, dass sie ein Kind erwarten. Sobald die Mutter das Kind in ihrem Koerper traegt setzen sich die werdenden Eltern mit dem Gedanken auseinander, dass bald ein Kind ihr Leben teilt.

Die Schwangerschaft bietet einen ausreichenden Zeitraum, sich gedanklich und emotional auf ein Kind vorzubereiten. „Du sagst: „Mein Kind“. Wann hast du das groesste Recht darauf, wenn nicht in der Zeit der Schwangerschaft? Der Schlag des wie ein Pfirsichkern so kleinen Herzens ist das Echo deines Pulsschlages“ (Korczak, J., 1998, S.2).

Die Mutter und das Kind bilden eine Einheit, neun Monate lang sind sie so eng miteinander verbunden wie sie es spaeter nie wieder sein werden. Alle Gedanken und Wuensche in Bezug auf das Kind sind in die Zukunft gerichtet: Was wird wohl sein, wenn der Tag der Geburt endlich da ist? Wird es wohl gesund sein, das Kind? Welchen Namen soll es tragen? Schon das Verhalten des Kindes im Mutterleib beschaeftigt die Eltern: Weshalb bewegt es sich so viel? Trotz der von der Mutter haeufig so empfundenen Einheit und „Zweisamkeit“ weiss sie doch eigentlich gar nichts ueber ihr Kind, erwartet freudig den Tag der Geburt, an dem sie es in den Haenden halten und betrachten kann.

Die Geburt ist ein fuer die Mutter und das Kind schmerzhafter Vorgang, der die Mutter all ihre Kraft kostet. Das Kind nach langem Hoffen und Warten nun endlich bei sich zu haben ist ein voellig anderer Zustand als der vor der Geburt. Nun steht alles fest: Das Kind ist gesund oder es ist nicht gesund. Es ist ein Maedchen oder es ist ein Junge. Es hat braunes oder blondes Haar. Unmittelbar nach der Geburt ist die Mutter noch entlastet, meist wird das Kind von Pflegekraeften gefuettert und gewogen und die Mutter wird angeleitet wie sie diese Aufgaben zukuenftig alleine zu uebernehmen hat.

Sobald die Eltern mit dem Kind allein sind, fordert dieses auch seine Rechte ein, richtet sich nicht nach den Vorstellungen der Eltern, schreit, wenn es Hunger oder Schmerzen hat. Die Eltern verstehen diese Sprache des Kindes nicht immer, sind ueberfordert. Ihr Leben hat sich voellig veraendert, alles hat unmittelbar mit dem Kind zu tun. Ängste und Sorgen koennen aufkommen: Schreit das Kind wohl, weil es krank ist? Wo tut es ihm weh? Experten werden hinzugezogen: der Arzt soll helfen. Doch vielleicht findet er nichts, und das Kind hat nur Hunger. Das beruhigt die Mutter.

Andere Fragen beschaeftigen die Eltern: „Ist es gescheit? Wenn die Mutter zunaechst nur aengstlich diese Frage stellt, bald wird sie verlangen, dass es so sei“ (Korczak, J., 1998, S.10).

Eltern muessen feststellen, dass die Realitaet vielleicht anders aussieht als das Bild, das sie sich von ihrem Kind gemacht haben. Das Kind soll ruhig und leicht zu beruhigen sein, aber vielleicht schreit es die ganze Nacht und laesst sich von niemandem beruhigen.

Die Eltern muessen lernen, sich zunaechst nach den Wuenschen und Beduerfnissen des Kindes zu richten.

Die Beduerfnisse und Wuensche der Eltern sind: Dem Kind ein Vorbild zu sein, fuer das Kind da zu sein, es belehren und lehren zu koennen und es zu beschuetzen. Sie versuchen moeglichst alle Beduerfnisse des Kindes zu erfuellen, muessen manche Beduerfnisse erraten, sind immer bemueht, es dem Kind recht zu machen. Das Kind zu beschuetzen heisst vor allem, es vor Gefahren zu bewahren, es von manchen Bereichen des Lebens fernzuhalten. Das Kind soll lernen, dass es nicht alleine ueber die Strasse gehen darf oder warum es nicht in eine Steckdose fassen soll.

Der Wunsch der Eltern ist es, dem Kind durch die Erziehung bestimmte gesellschaftliche und soziale Regeln und Verhaltensweisen nahezulegen. Dabei moechten sie selbst das Vorbild sein und das Kind richtet sich auch meist nach dem, was ihm da nahegelegt wird. Die Eltern sind seine unmittelbaren Bezugspersonen in den fruehen Lebensjahren.

Spaeter kommen andere Bezugspersonen hinzu. In der heutigen Zeit sind es die Kindergaertnerinnen in den Kindergaerten, andere Erwachsene, die auch zur Erziehung des Kindes beitragen. Doch solange das Kind noch alleine im Kreis der Eltern und der Familie lebt, nehmen die Eltern an jedem Ereignis seines Lebens, an jedem Schritt in seiner Entwicklung teil. Gemeinsam durchleben sie auch schwierige Zeiten, empfinden das Kind auch als Anstrengung. Das Kind aber nimmt darauf keine Ruecksicht, es fordert seine Rechte ein. Es nimmt keine Ruecksicht in seinem Drang und Wunsch, die Welt kennenzulernen und stoesst auf einen Widerstand beim Erwachsenen: „Der Vater schreibt; das Kind stuerzt mit einer Neuigkeit herein und fasst ihn beim Ärmel. Es kann ja nicht ahnen, dass ein Tintenklecks auf einem wichtigen Dokument entsteht. Hart gescholten, schaut es voller Verwunderung drein: was ist denn nun passiert?“ (Korczak, J., 1998, S.100)

So treffen die Wuensche des Kindes auf die Beduerfnisse der Eltern und manche Situation eskaliert, obwohl die Eltern sich doch immer vorgenommen hatten unbegrenzt Geduld und Zeit fuer das Kind aufzubringen. So muessen Eltern und Kind sich einigen schwierigen Situationen stellen.

Der Erwachsene und das Kind befinden sich in einer vollkommen unterschiedlichen Lage und Position: das Kind benoetigt den Erwachsenen zur Unterstuetzung und Hilfe, der Erwachsene fuehlt sich manchmal durch diese Aufgabe ueberfordert. Ihm fehlt das Einfuehlungsvermoegen in die Situation des Kindes: „Das Kind will ernst genommen werden, es verlangt Vertrauen, erwartet Weisungen und Ratschlaege“ (Korczak, J., 1998, S.127).

Eigene Interessen und Vorstellungen muessen mit denen des Kindes vereinbar sein. Beide, Kind und Erwachsener, muessen sich mit dieser Situation abfinden. Sie leben zwar miteinander und das Kind benoetigt die Anwesenheit und Hilfe des Erwachsenen, aber dennoch muessen sie die Unterschiede und die Entfernung, die dennoch zwischen ihnen liegt, akzeptieren lernen. Dies wird im Jugendalter und kommenden Ende dieser so engen Beziehung zwischen Eltern und Kind besonders deutlich: nun hat das Kind eigene Vorstellungen und Ziele im Leben, die es alleine und ohne Unterstuetzung der Eltern verwirklichen moechte. In dieser Zeit koennen die Vorstellungen der Eltern und die des Kindes so verschieden sein wie nie zuvor.

Das Kind, das erwachsen wird, ist nicht mehr von der Erklaerung und der Meinung der Eltern abhaengig und diese Veraenderung kommt fuer die Eltern meist ueberraschend und gestaltet sich als langwieriger Prozess. Die Eltern muessen das Kind in die Zukunft entlassen, sie fragen sich, ob sie ihm alles Noetige fuer diesen Weg mitgegeben haben, sie zweifeln an ihrer Erziehung, haben Sorgen und Zukunftsaengste. Die haeufig gestellte Frage: „Haben wir auch alles richtig gemacht?“ beschaeftigt die Eltern. Die Kindheit ging so schnell vorueber, nun kann das Kind reflektieren, Kritik ueben, eine Sache anders gestalten wollen als sie. Seine Selbstaendigkeit und Freiheit, seine Jugendlichkeit verweist die Eltern auf sich selbst, auf das Alter. Es erinnert auch an die eigenen Jugendjahre und ruft Erinnerungen hervor.

Wenn das Kind das Haus der Eltern verlaesst und die Geschwister es vielleicht schon getan haben oder bald tun, sind die Eltern nicht mehr vorrangig Eltern, sondern wieder ein Paar.

Sie koennen die Aufgabe der Kindererziehung hinter sich lassen und sich auf eine neue vielleicht vergessene Lebenssituation einstellen.
2. Korczaks Überlegungen
2.1. Plaedoyer fuer eine neue Sicht des Kindes

Korczak zeigt uns vor allem jenen Aspekt der Kindheit und des Kindseins, den wir Erwachsene haeufig vergessen: er sieht das Kind als ein Geschoepf, das uns und unserer Welt, der Welt der Erwachsenen und wie wir sie fuer das Kind gestalten, vollkommen ausgeliefert ist. Es liegt in der Hand des Erwachsenen, dem Kind das Leben und Aufwachsen in dieser Welt moeglichst angenehm und einfach zu gestalten. Das Kind soll von uns lernen, natuerlich benoetigt es unsere Hilfe tatsaechlich, aber wir nutzen diese Situation, ob bewusst oder unbewusst, aus. Was unterscheidet das Kind von einem Erwachsenen? Ist es duemmer als wir? Ist es nicht nur die fehlende Erfahrung mit dem Leben?

"Das vermag man nicht zu erkennen, wenn man sich einem Kinde mit dem Anspruch naehert: „Ich werde aus dir einen Menschen machen“, anstatt die forschende Frage zu stellen: „Was koennte wohl aus dir werden, Mensch?“ (Korczak, J., 1998, S.64)

Unser Umgang mit dem Kind ist vor allem durch die Vorstellung gepraegt, das Kind sei nicht etwas, sondern es werde erst etwas. Dadurch entsteht der Gedanke, dass das, was gross und erwachsen ist, erst einen Wert erlangt. Erwachsene sehen das Kind nicht als gleichwertig, sondern als minderwertig. Sie reden anders mit Kindern als untereinander, nehmen einen belehrenden Tonfall an, wenn das Kind eine Frage stellt. Der Umgang des Erwachsenen mit dem Kind ist bestimmt durch eigene Vorstellungen, wie das Kind zu sein hat, was es tun oder lassen soll. Das Bild, das wir vom Kind haben, hat nach Korczak nichts mit dem zu tun wie das Kind wirklich ist. Schon waehrend der Schwangerschaft haben Eltern eine Vorstellung von ihrem Kind, wie es sein soll, wie es aussehen soll, wann es laufen lernen soll, usw.

Hat diese Vorstellung etwas mit dem Individuum zu tun, das da in ihr Leben treten wird?

Nach der Geburt des Kindes geht es so weiter: „Es schlaeft nicht, wann wir wollen, es isst nicht so, wie wir es fuer richtig halten; wir hatten uns eingebildet, es werde froehlich lachen, aber nun ist es verschuechtert und weint. Und so anfaellig ist es: das kleinste Versehen genuegt, schon wird es krank und es gibt neue Schwierigkeiten“ (Korczak, J., 1973, S.16).

Das Kind wird staendig in seinen Taten und Wuenschen durch uns eingeschraenkt: Dies soll es lassen und jenes nicht tun. Ein Kind wird staendig bewacht und beaufsichtigt, jeder Schritt wird kontrolliert. Dadurch nehmen wir ihm die Lust am Leben, die Lust am Kindsein, am Ausprobieren. Wir nehmen ihm viele Erfahrungen, die es selber haette machen koennen, weil wir meinen, wir wuessten es besser.

Diese staendige Unterstuetzung bei jedem Schritt nimmt der Erwachsene nicht als selbstverstaendlich, sondern das Kind soll auch noch merken, wie er sich aufopfert, sein Leben einschraenkt fuer dessen Wohlergehen. Wer Kindern etwas gibt, ihnen hilft, fuer sie da ist, hat er nicht immer unbewusst den Wunsch, die Erwartung, etwas zurueckzubekommen? Wenn man sich schon soviel Muehe gibt, soll das Kind wenigstens die Muehe belohnen, indem es unseren Anweisungen folgt. Aber Kinder haben eigene Vorstellungen. Und dann heisst es: „Uneinsichtiges Kind, das vom Leben nichts weiss, armes Kind, undankbares Kind! (...) Undankbares: Ist denn die Erde der Sonne dankbar, dass sie scheint?“ (Korczak, J., 1998, S.6)

Kinder machen uns das Leben nicht so einfach, wie wir es von ihnen verlangen. Durch uebertriebene Fuersorge und Aufmerksamkeit wird das Kind eingeschuechtert, wird vielleicht passiv und zurueckhaltend, bekommt Angst vor dem Leben, weil ihm Angst gemacht wird.

Es lernt, dass es keine Rechte hat, dass alles durch den Erwachsenen bestimmt ist. Korczak geht sogar soweit, die Rechte des Kindes schlechter als die eines Bettlers zu sehen:

"Ein Bettler verfuegt immerhin frei ueber sein Almosen, ein Kind jedoch hat gar kein Eigentum, es muss ueber jeden Gegenstand Rechenschaft ablegen, den es zum Gebrauch erhalten hat“ (Korczak, J., 1973, S.10). Korczaks Forderung vom „Recht des Kindes auf seinen Tod“ (Korczak, J., 1998, S.40) ist also nur eine Forderung nach Leben. Indem wir dem Kind hinterherlaufen und es vor jeglicher Gefahr beschuetzen wollen, nehmen wir ihm das Recht auf ein eigenes Leben und eben auch das Recht auf den Tod.

Wir nehmen dem Kind jegliche Rechte, die ein Mensch zum Leben braucht. Korczak verteidigt die Rechte der Kinder an jeder beliebigen Stelle in seinen Schriften, weil er es fuer notwendig haelt, ihnen die gleichen Rechte zuzusprechen wie uns Erwachsenen auch. Er zeigt, dass wir das Kind weder auf einen Sockel stellen, anbeten und fuer ein besseres Wesen als uns selbst halten sollten, noch sollten wir es unterdruecken und fuer klein und dumm halten. Korczaks einzige und staendige Forderung ist die, das Kind einfach als gleichwertig, als fertigen Menschen zu betrachten und es so sein zu lassen wie es gern sein moechte, nicht so, wie wir meinen wie es sein moechte.

Welche Folgen die Einschraenkung hat, die Kinder durch den Erwachsenen erfahren, zeigt uns Korczak auf: Der Erwachsene, so muss das Kind meinen, ist der perfekte Mensch. Er macht keine Fehler und wenn er sie macht, werden sie vor dem Kind verborgen, er weiss soviel mehr und kann fuer sich selbst entscheiden, was richtig und falsch und gut fuer ihn ist. Kindern ist es nicht erlaubt, das Verhalten eines Erwachsenen zu beurteilen oder gar zu kritisieren. Kinder kommen gar nicht erst auf diesen Gedanken, weil ihre Meinung ja die eines Kindes ist, das noch nicht genug weiss. Somit wird der Erwachsene zum falschen Vorbild. Im Kind muss ja unter diesen Umstaenden zwangslaeufig der Wunsch entstehen, endlich erwachsen zu sein, faehig, alleine Entscheidungen zu treffen, klug zu sein. Das Kind traeumt von der Zukunft und von dem, was sein wird, wenn es einmal gross ist statt sein Kindsein zu geniessen.

Ein Kind lebt von seinen Traeumen: „Der Traum ist das Programm des kindlichen Lebens“ (Korczak, J., 1998, S.142). Der Traum als Flucht aus dem Alltag des Kindes, als Wunschvorstellung von dem, was sein soll, aber nicht ist.

Auch ahnt das Kind, dass das Leben nicht nur aus Gutem, sondern auch aus Schlechtem besteht. Es ahnt, dass auch der Erwachsene nicht nur gut sein kann. Meistens wird dem Kind nur der helle, unbefleckte Teil des Lebens und menschlichen Seins vermittelt und dies ist nur ein Teil des Ganzen. Irgendwann kommt die Zeit, wenn das Kind erkennt, dass die Eltern ihm etwas verschwiegen haben, dass es noch andere unbekannte Seiten des Lebens gibt, die es nicht sehen durfte (vgl. Korczak, J., 1998, S.121). In ihrem Bestreben, dem Kind die Kindheit leicht und unbeschwert zu gestalten, enthalten Eltern oft ihren Kindern einen Teil der „Wahrheit“ vor und rufen damit Schuldgefuehle oder Ängste beim Kind hervor, sobald es diesen, ihm vorenthaltenen, verbotenen Teil des Lebens entdeckt. Faelschlicherweise gehen Erwachsene oft davon aus, das Kind wisse noch nicht alles, also erkenne es bestimmte Vorgaenge im Leben auch nicht.

In seinem Streben nach Erwachsenensein, nach Freiheit, kommt das Kind einmal wirklich zu dem Punkt, wo der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter sich vollzieht.

Von Eltern gefuerchtet und nach Korczaks Meinung haeufig ueberbewertet, gestaltet sich diese Lebensphase als erneute Enttaeuschung fuer das Kind: Die Eltern treten nicht als Helfer auf, sondern leiden selbst an der aufkommenden Veraenderung. Die Bereiche des Lebens, die bisher verschwiegen und missachtet wurden, koennen nun nicht mehr ignoriert werden. Ratlos stehen die Eltern dem Problem gegenueber. Das Kind steht vor einer ungewissen Zukunft, fuehlt sich mehr allein gelassen als je zuvor.

Das Entdecken der eigenen Sexualitaet wird als unbekannte Bedrohung empfunden, weil auch dieser Bereich im Leben des Kindes bisher noch nicht vorkam (vgl. Korczak, J., 1998, S.133). Korczak ist hier in seinen Ansichten ueber die Auswirkungen der Ausgrenzung der fruehkindlichen Sexualitaet als einen Bereich des Lebens der Paedagogik seiner Zeit weit voraus. Er nimmt Bezug auf Freud und bezeichnet den Sexualtrieb als einen Trieb, „(...) der so eng mit dem Leben verbunden ist wie das Wachstum selbst“ ( Korczak, J., 1998, S.133).

Die Hilfe und Unterstuetzung, die das Kind in dieser Phase wirklich benoetigen wuerde, wird ihm oft verwehrt. Waeren die Eltern auf diese Situation vorbereitet, koennten sie ihrem Kind in einer beruhigenden Art zur Seite stehen.

Die am haeufigsten zu beobachtende Reaktion des heranwachsenden Kindes auf die Eltern, die Rebellion, ist nach Korczak nur die Rache fuer das, was dem Kind angetan wurde, in dem man es die gesamte Kindheit ueber unterdrueckt hat (vgl. Korczak, J., 1998, S.138).

Die Schwierigkeiten im Umgang des Erwachsenen mit dem Kind in dieser Lebensphase begruendet sich wieder im Egozentrismus des Erwachsenen: Die Ideale, die das eigene Kind nun anstrebt, hat man selbst vielleicht nicht erreicht. Zunaechst scheint sich die ablehnende Reaktion des Erwachsenen auf Unverstaendnis zu begruenden, doch wen man genau hinschaut, dann ist es vielleicht die Enttaeuschung darueber, selbst nicht mehr jung zu sein. „Was habe ich vom Leben?“ sagt das Kind. „Und was habe ich schon davon gehabt?“ fragt die Mutter“ (Korczak, J., 1998, S.139).

Nach Korczak sind die Verhaltensweisen, die Jugendliche unter sich oder im Umgang mit Erwachsenen an den Tag legen nur ein Zeichen weiterer Verzweiflung: wenn Jugendliche unter sich sind und auffaelliges Verhalten zeigen, wenn sie gemeinsam laut lachen und ueber Erwachsene spotten, ist dies nur die Illusion, sich fuer einen kurzen Augenblick von den Ketten zu befreien, die ihnen durch Erziehung und Elternhaus angelegt worden sind.

Was zunaechst nach uebertriebener Heiterkeit aussieht, ist auf den zweiten Blick reine Verzweiflung ueber die eigene Situation: gerade im Kampf gegen die elterlichen Fesseln und schon kommen die Fesseln des wirklichen Lebens, der Gesellschaft, auf sie zu.

Sobald ein Erwachsener diese scheinbar ausgelassene Szene betritt ebbt die Heiterkeit ab, da das Auftreten eines Erwachsenen die Konfrontation mit der Wirklichkeit bedeutet (vgl. Korczak, J., 1998, S.149).

Die Ideale, die Jugend sich schafft, werden von den Erwachsenen zerstoert. Sie lachen ueber die Naivitaet des Jugendlichen und ueber dessen Idealismus; wieder wollen die Erwachsenen beweisen, dass sie mehr Lebenserfahrung und auch mehr Klugheit besitzen. Die vergessenen Ideale und Ziele aus der eigenen Jugend werden einfach verdraengt. Eigene Erfahrungen werden auf das Kind uebertragen: „ Wir kennen den Weg zum Glueck, wir geben Hinweise und Ratschlage“ (Korczak, J., 1973, S.10). „Wir wissen, was Kindern schadet, wir erinnern uns, was uns geschadet hat. Dies soll ihm erspart bleiben“ (Korczak, J., 1973, S.14).
2.2. Forderungen an den Erwachsenen

Erwachsene gehen leichtfertig mit Kindern um: Kinder sind klein und ruehrend unerfahren. Diese Einstellung macht den Umgang leicht. Hier ein Ratschlag, da ein Verweis und dahinter die Botschaft: Glaub mir, ich weiss es viel besser.

Mit Kindern spricht der Erwachsene anders als mit Anderen. Manche Themen werden ganz vor Kindern geheimgehalten; betreten Kinder einen Raum, in dem Erwachsene ueber etwas reden, wird es oft schlagartig still. Wenn das Kind nachfragt, worueber gesprochen wurde, wird es selten die Wahrheit erfahren, wenn es um Themen ging, die nicht fuer Kinder bestimmt sind. Diese Situation setzt voraus, dass der Erwachsene annimmt, das Kind sei zu dumm, zu unerfahren, als dass es die Luege bemerken wuerde. Dies nur als Beispiel dafuer, wie wir uns Kindern gegenueber verhalten, vielleicht ohne bewusst wahrzunehmen, dass es auch anders gehen koennte.

Erwachsene muessen jenes Gefuehl der Überlegenheit gegenueber dem Kind ablegen und sich wie Korczak mit dem Kind genau auf eine Stufe stellen. Sie sollten einmal versuchen, die Situation des heranwachsenden Kindes wirklich zu verstehen und sich in seine Lage zu versetzen: „Wir sollten Achtung haben vor den Geheimnissen und Schwankungen der schweren Arbeit des Wachsens!“(Korczak, J., 1973, S.28)

Erwachsene sollten einmal ihr Verhalten im Umgang mit Kindern ueberdenken: warum muessen sie immer belehrend auftreten? Es geht darum, dem Kind natuerlicher zu begegnen. Das Kind unterscheidet sich nicht viel von einem Erwachsenen, warum muessen wir dann immer unsere Autoritaet und Macht beweisen?

Weil es der einfachere Weg ist. Aber wenn wir uns wirklich auf Kinder einlassen wollen, muessen wir uns auch von ihnen lenken lassen. Wir muessen von unserem Sockel heruntersteigen, um Kinder zu verstehen. Wir muessen flexibel sein, nicht verbissen irgendein Konzept verfolgen wollen. Jede paedagogische Situation ist anders; Korczak lehrt uns loszulassen und mit dem Kind zu gehen. Selbst wenn wir meinen, vieles besser zu wissen,

wir koennen doch auch mit unserem Wissen einmal zurueckhalten.

"Wir sollten nicht treten, nicht vernachlaessigen, nicht das Morgen fesseln, es nicht ausloeschen, nicht eilen, nicht hetzen. Wir sollten jeden einzelnen Augenblick achten, denn er stirbt und wiederholt sich nicht, und immer sollten wir ihn ernst nehmen; wird er verletzt, so bleibt eine offene Wunde zurueck, wird er getoetet, so erschreckt er uns als Gespenst boeser Erinnerungen“ (Korczak, J., 1973, S.28).

Wir koennen uns erst von den Kindern die Welt zeigen lassen, wenn wir den Wunsch haben, ihre Welt zu begreifen.
2.3. Besonderheiten der Darstellungen Korczaks

Wer sich mit Janusz Korczaks Buch „Wie man ein Kind lieben soll“ beschaeftigt, wird schnell einige grundlegende Unterschiede zu anderen paedagogischen Theoretikern feststellen.

Es waere falsch, Korczaks paedagogische Überlegungen als Theorien zu bezeichnen, denn dann hat man den Sinn seiner Ausfuehrungen verfehlt. Korczak selbst schreibt am Ende des Abschnitts „Das Kind in der Familie“, dass er vieles, was er in seinem Buch aufgeschrieben hat, bereits kurze Zeit spaeter wieder verworfen hat. Wer sein Buch als „lebensfaehiges Geschoepf“ (Korczak, J., 1998, S.149) bezeichnet, kann wohl kaum gewollt haben, dass man daraus trockene Theorien ableitet, an denen nicht zu ruetteln ist.

Ein „lebensfaehiges Geschoepf“ ist lebendig, immer in Bewegung, etwas was sich immer veraendert.

Zu Beginn des Buches stehen Fragen, die offen sind, die es zu loesen gilt oder nicht zu loesen gilt. Korczak antwortet: „Ich weiss nicht“ (Korczak, J., 1998, S.1). Ein Paedagoge, der zugibt, dass er nicht immer eine Antwort auf alle Fragen hat, das hat man selten erlebt.

Sollte ein guter Paedagoge immer alle Antworten kennen? Nein. Eigentlich kennt er keine. Er ahnt nur, er kann nur immer zu verstehen versuchen, immer wieder an anderer Stelle ansetzen, altes Wissen verwerfen und neu beginnen.

Korczak will zum Nachdenken anregen, den Leser zum eigenen Denken auffordern.

Sein Wunsch ist es nicht, dass seine Gedanken von jedem Menschen uebernommen werden,

sondern das Wichtigste scheint Korczak zu sein, dass man sich wirklich mit ihm auseinandersetzt. Wer jedes seiner Worte auf die Goldwaage legt und daraus eine Theorie ableiten will, der hat Korczak missverstanden.

Oft genug stellt der Leser seiner Schriften fest, dass Korczak an manchen Stellen zu Übertreibungen und Überspitzungen neigt. Wer an diesen Überspitzungen festhaelt und dadurch vielleicht versucht einen fehlenden Sinn fuer Realitaet zu begruenden, liegt falsch.

Hier sei ein Beispiel genannt: bei seinen Überlegungen wie man Kindern das Spielen im eigenen Zimmer schoener gestalten koennte, macht Korczak den Vorschlag statt eines Linoleumbodens einfach eine Fuhre gelben Sandes darin zu verteilen und ein Buendel von Stoecken und eine Schubkarre Steine hinzu zugeben (vgl. Korczak, J., 1998, S.90).

Wenn man dies nun realistisch betrachtet, wird man natuerlich feststellen, dass es so gut wie unmoeglich ist statt eines Fussbodens Berge von Sand in einem Kinderzimmer zu haben.

Korczak benutzt diese gezielten Übertreibungen, um Missstaende aufzuzeigen: Er kritisiert das Verhalten mancher Eltern, die das Zimmer ihres Kindes zu einem sterilen Ort machen und damit dem Kind die Moeglichkeit nehmen sich frei zu entfalten.

Korczak regt dazu an, sich eigene Gedanken zu machen und die eigene Meinung zu vertreten, auch wenn andere sie nicht teilen sollten, denn „(...) der lebendige Gedanke arbeitet, aber die Vorschrift befiehlt“ (Korczak, J., 1998, S.20).

Im letzten Abschnitt des ersten Teils, „Das Kind in der Familie“, stellt Korczak noch einmal klar, dass sein Buch kein fertiges Rezept ist, mit dem man nun auf Kinder zugehen sollte.

Es ist eine Anregung, ein Appell, anders zu denken als gewoehnlich, eine Sammlung von Gedanken, aus der sich jeder die heraussuchen kann, die er fuer passend haelt.

In jeder paedagogischen Situation kann ein anderer Gedanke passend sein, in mancher Situation vielleicht gar keiner. Dies kann jeder fuer sich selbst entscheiden. Korczak empfiehlt: „Sei wachsam in kluger Einsamkeit“ (Korczak, J., 1998, S.150)...
3. Kurze Reflexion eigener praktischer Erfahrung im Umgang mit Kindern und Loesungsversuch

Zum Ende dieser Arbeit moechte ich nun kurz etwas aus meiner eigenen paedagogischen Erfahrung mit Kindern hinzufuegen. Bei einem halbjaehrigen Praktikum in einer heilpaedagogischen Kindertagesstaette hatte ich mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren zu tun, die aus verschiedensten Gruenden in ihrer Entwicklung gestoert waren, nicht in eine normale Vorschuleinrichtung passten und besonderer Betreuung bedurften.

Hier konnte ich feststellen, wie schwer es sein kann einen eigenen Weg im Umgang mit Kindern zu finden, ohne einfach nur als „Erzieher“ auftreten zu wollen.

Sicherlich benoetigten diese Kinder eine gewisse Anleitung und Hilfe in allen moeglichen Situationen. Haette man nun einfach immer nur zugeschaut und die Kinder alles selbst gestalten lassen, waere in kuerzester Zeit ein riesiges Chaos entstanden. Aber ich merkte schnell, dass man als Erwachsener, ob bei besonders Hilfe beduerftigen oder normal entwickelten Kinder, schnell in einen gewissen belehrenden Tonfall faellt und den Kindern unterstellt, dass sie in fast keiner Situation alleine zu Recht kommen. Jede Situation aber gestaltete sich anders und schnell bekam ich auch von den Kindern zu spueren, dass es sie stoerte, dass man ihnen so wenig zutraut.

Am ersten Tag tappte ich zwar direkt in einige Fallen, weil ich noch unerfahren war und keines der Kinder genau kannte, aber mein Blick war noch ungetruebt und ich ging freier und ungezwungener mit den Kindern um. Die paedagogischen Kraefte, die dort seit mehreren Jahren arbeiteten, so stellte ich fest, hatten bereits von jedem Kind ihr eigenes Bild und paedagogisches Konzept, wie mit ihm umzugehen sei. Ich haette mir gewuenscht, dass nicht schon alles so festgelegt gewesen waere, sondern dass man sieht, dass jedes Kind jeden Tag, jede Minute anders sein kann. Es waere sicherlich auch fuer die Kinder besser gewesen, sie nicht in ein bestimmtes Muster zu pressen, sondern flexibler zu sein.

Ich loeste diese Situation so fuer mich: Ich versuchte mich mehr auf die Kinder einzulassen, mich auch einmal von ihnen fuehren zu lassen und nicht immer direkt mit einer Ermahnung in jede Begegnung zu gehen. Ich versuchte, die Ereignisse vom Vortag hinter mir zu lassen und mich auf das einzulassen, was an dem jeweiligen Tag passierte. Wenn es noetig war, irgendwo einzugreifen, dann tat ich es auch. Natuerlich passierte es dabei auch, dass ich manche Situationen nicht richtig einschaetzte und eine moegliche Gefahr uebersah. Oder es gab Kinder, die nicht akzeptieren konnten, dass ich in einer Situation mit ihnen spielte, im naechsten Moment eingreifen musste.

Ich versuchte also, mich mehr auf Kinder einzulassen und lernte dabei, dass es alles andere als einfach ist. Aber obwohl ich viele schwierige Situationen kennenlernte und manchmal vielleicht falsch handelte, denke ich, dass es dennoch angenehmer fuer die Kinder war, die Fehler der Erwachsenen leichter verzeihen, wenn sie merken, dass ein Erwachsener authentisch auftritt und nicht verbissen und festgefahren.

Ich denke, dass es auch Korczak nicht darum ging, unbedingt jeden Fehler im Umgang mit Kindern zu vermeiden. Das ist unmoeglich. Sobald man sich auf Kinder einlaesst, muss man auch wissen, dass man Fehler machen wird. Das wichtigste ist, dass man authentisch ist, dass man nicht mit einer vorgefertigten Meinung und einem vorgefertigten Bild auf Kinder zugeht, sondern dass man offen ist, fuer alles was kommt.

Theorien koennen paedagogische Situationen zerstoeren. Sie geben dem Kind, dem Individuum keine Moeglichkeit zu zeigen, dass es nicht in eine bestimmte Kategorie passt, die wir in unserem Kopf haben. Jedes Kind und jede Begegnung mit einem Kind ist anders. Diese Erkenntnis sind wir den Kindern schuldig. Das ist das, was Korczak uns lehrt, heute und immer wieder: Zuviel Forschung und Theorie in Bezug auf das Kind kann uns die Freude am Umgang mit Kindern nehmen. Bei all der Theorie sehen wir manchmal die Realitaet nicht mehr.

Wir Erwachsene sollten mehr den Wunsch haben, uns auf Kinder einzulassen, indem wir uns von ihnen den Weg zeigen lassen. Irgendwann ist sonst die Kluft zwischen uns und dem Kind, zwischen unseren paedagogischen Theorien und der Realitaet, so wie sie Kinder sehen, so gross, dass der Umgang mit dem Kind unmoeglich wird.

Wir muessen heruntersteigen von unserem Sockel. Wir muessen wieder ganz von vorne beginnen und lernen zu sagen: „Ich weiss nicht.“

Das waere der richtige Weg am Ende eines „Jahrhundert des Kindes“: noch einmal neu zu beginnen, so wie Korczak es uns zeigt.

 

Autorin: Lavinia Korte

 

Literaturverzeichnis

Dauzenroth, Erich: Ein Leben fuer Kinder. Janusz Korczak. Leben und Werk, Guetersloh (Guetersloher Verlaghaus)1996

Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll, Goettingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 1998

Korczak, Janusz: Von Kindern und anderen Vorbildern, Guetersloh (Guetersloher Verlaghaus), 1979

Korczak, Janusz: Das Recht des Kindes auf Achtung, Goettingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 1973

Pelzer, Wolfgang: Janusz Korczak, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt Verlag), 1987

 

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